Im Jahr 2014 beschloss die Stadt Paris, dass die BewohnerInnen über zunächst 5 Prozent des Haushaltsbudgets direkt bestimmen dürfen – mittlerweile sind es 8 Prozent. Über die gesamte Amtsperiode der damals frisch gewählten Bürgermeisterin Anne Hidalgo (Bild rechts) war das immerhin eine Summe von fast 500 Millionen Euro.
Anne Hidalgo wurde damit zu einer Vorreiterin in einem Trend, der sich mittlerweile in ganz Europa verbreitet hat: Direkte Mitwirkung von BürgerInnen an politischen Entscheidungen mit Hilfe von digitalen Instrumenten.
Digitale Kanäle sind eine entscheidende Voraussetzung für das Gelingen solcher Projekte, denn nur dann ist es möglich, bei überschaubarem Aufwand eine große Zahl von Menschen einzubeziehen. Die beiden größten Herausforderungen sind dabei in jedem Fall: Wie kann verhindert werden, dass die breite BürgerInnenbeteiligung in Wahrheit eine elitäre Veranstaltung wird, weil nur jemand, der einen Computer besitzt und über entsprechend politisches Wissen verfügt, auch tatsächlich sinnvoll teilnehmen kann? Und zweitens: Wie kann sichergestellt werden, dass die eingelangten Stellungnahmen, Ideen und Kritikpunkte auch tatsächlich berücksichtigt werden?
Der langfristige Trend zu mehr direkter Partizipation, der schon seit Jahren in der politischen Theorie sowie bei allen Überlegungen zur Weiterentwicklung der Demokratie ein zentrales Thema darstellt, fließt hier mit der fortschreitenden Digitalisierung der politischen Prozesse zusammen. Die Politik wird digital. In der Folge wird sich die Art, wie in europäischen Demokratien politische Entscheidungen erarbeitet, gefällt und legitimiert werden, in den nächsten zehn Jahren fundamental ändern. Das bedeutet, dass sich auch die systematische Interessenvertretung, also Public Affairs und Lobbying, entsprechend entwickeln müssen. Digitale Public Affairs ist die Antwort auf eine mehr und mehr digitale Politik.
Drei Säulen der digitalen Politik
Drei eng miteinander verzahnte Bereiche sind von den Veränderungen durch die Digitalisierung am stärksten betroffen. In allen drei Fällen ergeben sich daraus weitreichende und langfristige Auswirkungen auf die Public Affairs-Arbeit:
Gesetzgebung und Verwaltung sind im Internet dokumentiert und ermöglichen Information in einem Ausmaß und einer Leichtigkeit wie nie zuvor in der Geschichte der Demokratie. Gesetzesanträge, parlamentarische Anfragen, die Tagesordnung von Ausschüssen, Entwürfe von Ministerien – all diese Dokumente sind mehr und mehr online zugänglich. Plenarsitzungen des Parlaments können via Livestream verfolgt und zum Teil auch nachträglich gesehen werden. Das bedeutet einen Quantensprung an Transparenz und Information gegenüber den Verhältnissen, die noch zu Beginn des Jahrhunderts üblich waren. Dabei hinkt Österreich hier der europäischen Entwicklung sogar noch stark hinterher. In Österreich sind nur Plenarsitzungen des Parlaments öffentlich, nicht aber die Ausschüsse. Originaldokumente gibt es nur von Anträgen und Vorhaben im Parlament, nicht aber von den Ministerien. Österreich kennt auch keine ministeriellen Vorhabensberichte, wie sie etwa in Deutschland üblich sind. Selbst die Tagesordnungspunkte im Ministerrat werden erst zu einem sehr späten Zeitpunkt verfügbar gemacht. Professionelle Interessenvertretung ist also weiterhin auf informelle Informationsquellen angewiesen. Doch geht die Entwicklung unaufhaltsam in Richtung mehr Transparenz, und das Mittel dazu sind digitale Kanäle. Die intensive Nutzung digitaler Informationskanäle zum Monitoring relevanter politischer und administrativer Vorgänge gewinnt an Bedeutung. Zugleich bedeutet mehr Transparenz auch, dass die Tätigkeit der Interessenvertretung (das Lobbying) selbst stärker unter öffentlicher Beobachtung steht und das Beobachten von fremden Lobbyingaktivitäten durch die Digitalisierung erleichtert wird.
Die Digitalisierung der politischen Kommunikation lässt sich ebenfalls seit Jahren beobachten: Parteien und Ministerien nutzen mehr und mehr digitale Medien für ihre gezielte, gesteuerte Kommunikation. Für die Public Affairs bedeutend ist vor allem die Tatsache, dass die sozialen Medien Zweiweg-Kommunikation ermöglichen. Zwar entsteht auf Twitter, Facebook, Instagram und ähnlichen Kanälen kein echter Dialog, aber wer solche Medien nutzt, muss berücksichtigen, dass seine Botschaften stets Reaktionen in Form von positiven oder negativen Kommentaren auslösen. Die Folgen der Digitalisierung der politischen Kommunikation für Public Affairs werden wir in Folgebeiträgen noch näher beleuchten.
Digitale Partizipation ist jener Trend, der am engsten mit der Public Affairs zusammenhängt. Die Entwicklung von politischen Konzepten und die Diskussion von politischen Zielen findet direkt im Internet statt. Einer der Wesenskerne von Public Affairs, nämlich die Mitwirkung an politischen Entscheidungen, wird so erleichtert und demokratisiert, zugleich aber durch das Einbeziehen von wesentlich mehr Mitwirkenden grundlegend verändert.
Fallbeispiel Paris
Die französische Hauptstadt hat 2014 ein budget participatif eingeführt, das mittlerweile rund 8 Prozent des Gesamthaushalts der Stadt umfasst. Dieser Teil der städtischen Ausgaben unterliegt zur Gänze dem direkten Willen der BürgerInnen. Dafür wurde eine Website eingerichtet, auf der jeder und jede Projektvorschläge einreichen kann. Die Frist für die Einreichung neuer Projekte läuft von Jänner bis März. Die Beamten der Stadtverwaltung prüfen zunächst, ob das Projekt realisierbar ist.
Jeder Vorschlag muss vier Kriterien erfüllen, um in die nähere Auswahl zu kommen:
Der Vorschlag muss von einem Pariser Bürger oder einer Bürgerin stammen – nur Menschen mit dauerhaftem Wohnsitz in der Stadt sind teilnahmeberechtigt.
Das Projekt muss im allgemeinen Interesse liegen, es darf also nicht nur Partikularinteressen einzelner bedienen, sondern soll möglichst allen Nutzen bringen.
Das Projekt muss in den Kompetenzbereich der Stadt fallen.
Die Kosten für das Projekt müssen überwiegend Investitionskosten sein, nicht überwiegend laufende Kosten.
Alle Projekte, die auf diese Weise in die Auswahl kommen, werden im Internet präsentiert. Wer sich dort registriert und seinen Hauptwohnsitz in Paris hat, darf Vorschläge und Kommentare zum Projekt abgeben und zuletzt darüber abstimmen. Bei dieser Abstimmung, die stets im Herbst stattfindet, geht es nicht einfach darum, „ja“ oder „nein“ zu einem Vorschlag zu sagen. Vielmehr muss das Budget entsprechend zugewiesen werden. Die BürgerInnen unterschreiben nicht einfach einen Wunschzettel, sondern setzen Prioritäten auf Basis der vorhandenen finanziellen Mittel.
Beim Start 2014 hatten 15.000 PariserInnen über das budget participatif mitbestimmt. Im Jahr 2019 waren es bereits 130.000. Der Großteil der siegreichen Projekte betraf die Hebung der Lebensqualität durch mehr Grün und weniger Verkehr. Beispielsweise wurde ein stillgelegter Bahntrassenring (die „Petite Ceinture“) begrünt und zu einem Wanderweg durch die Stadt umgestaltet. Hier zeigt sich auch sehr unmittelbar, welche Auswirkungen diese Form der Partizipation auf die professionelle Interessenvertretung haben kann. Hidalgos Stadtregierung schlug vor, dass die Straßen entlang der Seine autofrei gemacht und zu Flanierzonen umgestaltet werden. Die Idee stieß auf heftigen Widerstand bei den Geschäftsleuten und Gewerbetreibenden, die Wirtschaftskammer startete intensive und professionell geplante Lobbying-Aktivitäten und hatte auch den größeren Teil der Medien auf ihrer Seite.
Trotzdem konnte Anne Hidalgo ihr Projekt gegen alle Widerstände durchsetzen. Das Lobbying der Wirtschaftskammer scheiterte, weil es die eigentlichen Entscheidungsträger nicht ausreichend berücksichtigte: die BürgerInnen. Das Beispiel Paris hat inzwischen Schule gemacht. Mittlerweile hat ein Viertel aller französischen Kommunen ein budget participatif. Auch in anderen Ländern wurde die Idee umgesetzt, etwa in Madrid, Lissabon und mehreren deutschen mittelgroßen Städten.
Fallbeispiel Barcelona
Barcelona hat 2016 ein umfangreiches Experiment für partizipative Demokratie gestartet, und zwar als Projekt innerhalb einer langfristigen Smart-City-Strategie. Für die BürgerInnenbeteiligung kommt dabei ein Mix aus Online- und Offline-Instrumenten zum Einsatz. Eine Freie-Software-Plattform namens „Decidim“ wurde eingerichtet, wo BürgerInnen neue Ideen und Regulierungen vorschlagen können. Was dort hochgeladen wird, fließt auch tatsächlich in die politische Planung ein: Rund 70 Prozent der Vorhaben auf der Agenda der Stadtpolitik stammen aus Vorschlägen der BürgerInnen.
Bürgermeisterin Ada Colau (Bild) hat dazu eigens eine Beauftragte für Technologie- und Innovationspolitik installiert, Francesa Bria. Sie wurde mit einem ausreichend großen Team ausgestattet, um die wichtige Kommunikation auf der Partizipations-Plattform zu bewältigen: BürgerInnenbeteiligung funktioniert nur, wenn die Teilnehmenden auch das Gefühl haben, dass ihr Engagement etwas bewirkt oder zumindest ernst genommen wird, sie also nicht einfach Ideen hochladen, die dann im Nirgendwo versanden. Zu Brias Aufgaben gehört es, die BürgerInnenbeteiligung der Stadt möglichst basisdemokratisch zu gestalten, um eben zu vermeiden, dass die Digitalisierung der Stadt zur Exklusion von technologisch weniger affinen BürgerInnen führt oder gar zum Ausschluss von Menschen, die sich die jeweils neuesten mobilen und sonstigen Geräte nicht leisten können.
Ähnlich wie bei Anne Hidalgo in Paris nutzt auch Ada Colau diese Partizipation zur Absicherung von politischen Vorhaben, die ohne ein starkes BürgerInnenvotum am tagespolitisch motivierten Widerstand anderer politischer Kräfte scheitern würden. Colau schaffte die Wiederwahl im Mai 2019 nur knapp und hat im Stadtparlament relativ starke Fraktionen von linken und rechten katalanischen Separatisten gegen sich. Digitale Partizipation – das zeigt das Beispiel Barcelona ebenso wie das Beispiel Paris – kann reale Machtverhältnisse verändern, was dann wiederum für die Strategie von Public Affairs-Projekten entsprechend berücksichtigt werden muss.
Seit 2020 wird die Beteiligungssoftware Decidim auch für die Erstellung eines partizipatorischen Bürgerbudgets eingesetzt. Wie in Paris stimmen die Bürger also nicht nur darüber ab, ob ihnen Projekte gefallen, sondern auch darüber, wofür eine vorgegebene Summe Geld ausgegeben werden soll und wofür nicht. Bei digitalen Plattformen wie Decidim stellt sich jeweils die Frage, wie die Privatsphäre der Nutzerinnen und Nutzer gewährleistet werden kann. Zum einen ist es erforderlich, dass sich Teilnehmende an Beteiligungsprozessen eindeutig identifizieren – eine anonyme Teilnahme wäre undemokratisch und würde zu Missbrauch führen. Zum anderen muss gewährleistet sein, dass die personenbezogen Daten nicht verwendet werden, vor allem muss sich jeder und jede darauf verlassen können, dass geheim bleibt, welche Ideen jemand geliefert oder welche Projekte er oder sie unterstützt hat. Die Stadt Barcelona hat dazu ein Pilotprojekt namens DECODE (Decentralised Citizens Owned Data Ecosystem) gestartet, das von der EU finanziert wird. DECODE garantiert Geheimhaltung und stellt sicher, dass die jeweils freigegebenen Daten (also etwa eingebrachte Vorschläge oder ein Votum für eine bestimmte Verwendung von Budgetmitteln) nicht einer bestimmten Person zugeordnet werden können.
Bevorstehende Entwicklungen in der EU
Ende Jänner 2020 hat die Europäische Kommission die Einrichtung einer „Konferenz zur Zukunft Europas“ beschlossen. Der für Mai 2020 geplante Start musste wegen der Corona-Pandemie auf März 2021 verschoben werden. Im Mittelpunkt dieser Konferenz stehen neue Instrumente der Partizipation. Direkte Beteiligung von BürgerInnen soll eine Quadratur des Kreises ermöglichen, nämlich dafür sorgen, dass die EU sowohl demokratischer wird als auch schneller zu Entscheidungen kommt.
Die Konferenz selbst wird bereits nach dem Modell der BürgerInnenräte abgehalten, soll also den Input von ExpertInnen ebenso behandeln wie die Ideen von zufällig ausgewählten Menschen aus allen Mitgliedsstaaten.
Derzeit ist noch nicht absehbar, welche konkreten Auswirkungen diese Konferenz auf die Public Affairs-Arbeit in Brüssel haben wird. Allgemein gilt aber auch hier: Es zeichnet sich eine Entwicklung ab, die dazu führen kann, dass Entscheidungen nicht mehr nur im Rat, in der Kommission und im Parlament fallen, sondern direkt an die BürgerInnen delegiert werden. Langfristige Public Affairs-Strategien müssen diese Entwicklung beobachten und berücksichtigen.
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