Mitreden in der digitalen Agora
Autoren: Joachim Kurz & Walter Osztovics | 10. Mai 2022
Edward Strasser ist Gründer und CEO einer Organisation, deren Name zunächst wie ein Widerspruch in sich klingt: Innovation in Politics Institute. Die Mitarbeiter:innen dieses Instituts suchen europaweit Menschen mit neuen Ideen zur Belebung der Demokratie. Sie vernetzen und dokumentieren solche Innovationen. Einmal im Jahr lässt das Institut interessante Initiativen durch eine Fachjury sowie durch Bürger:innen bewerten. Die besten Ideen erhalten dann einen der Innovation in Politics Awards. Beim Treffen mit dem Arbeitskreis Digital Public Affairs beschrieb Strasser, wie digitale Instrumente mehr Partizipation und Bürgernähe schaffen können – und dazu zwingen, politische Prozesse neu zu denken.
Abseits der eingesessenen Institutionen ist das Feld der Politik wesentlich innovativer, als die meisten annehmen würden. Diese Erfahrung hat Edward Strasser selbst überrascht, wie er sagt:
„Der Druck zur Veränderung ist enorm hoch. In allen europäischen Demokratien sinkt das Vertrauen in die gewählten politischen Vertreter. Quer durch alle Schichten und Berufsgruppen erleben wir eine massive Erosion des Vertrauens in Politik.“
Technologie für mehr Demokratie
Dieser Wandel ist natürlich auch den politischen Akteuren nicht entgangen. In allen Parteien und Institutionen wird darüber nachgedacht, so Strasser, „wie Politik heute sein muss, damit sie wieder bei den Bürger:innen ankommt.“ Eine Antwort lautet: Sie muss näher an die Bürger:innen rücken, muss Zivilgesellschaft und Einzelpersonen stärker in politische Entscheidungen involvieren. Die fortschreitende Digitalisierung liefert dazu völlig neue Möglichkeiten, sagt Strasser, das zeige sich auch in den Projekten, die für den Innovation in Politics Award nominiert werden:
„Im Bereich der digitalen Partizipation bewegt sich derzeit sehr viel.“
In Europa entsteht gerade ein echter Markt für jene Dienstleistungen, für die sich wohl der Begriff „Democracy Technology“ einbürgern wird. Starke Zuwächse lassen sich sowohl auf der Anbieter- als auch auf der Nachfragerseite beobachten. Anbieter sind vor allem Software-Entwickler und Online-Service-Provider, die Programme für öffentliche Konsultationen ebenso anbieten wie für Abstimmungen oder für organisierte Debatten über aktuelle Fragen. Nachgefragt werden solche Technologien von NGOs, von Verbänden und großen Interessensorganisationen, aber auch in hohem Maße von Städten und Gemeinden, denn auf kommunaler Ebene ist die digitale Mitbestimmung bereits am weitesten fortgeschritten. Zumindest im Rest von Europa, denn „Österreich ist in diesem Punkt leider Entwicklungsland.“
Formen der digitalen Mitbestimmung
Für die Partizipation über das Internet gibt es eine Fülle von Anwendungsmöglichkeiten. Strasser beobachtet, dass sich derzeit fünf Felder am stärksten entwickeln:
1. Partizipative Budgets
Große Städte wie Paris oder Barcelona haben es vorgemacht, viele andere sind gefolgt und haben daraus einen der erfolgreichsten Trends in der Bürger:innenbeteiligung gemacht: Wähler:innen können auf Online-Plattformen Vorschläge machen, wofür das Stadbudget (jedenfalls ein Teil davon) verwendet werden soll. Über die Vorschläge wird ebenfalls online abgestimmt. Projekte, die auf diese Weise eine Mehrheit erhalten, sind dann für die Stadtregierung bindend, es handelt sich also nicht einfach um Befragungen und Meinungsaustausch. Diese Verbindlichkeit ist wichtig, betont Strasser:
„Zum einen erhält die Mitarbeit der Bürger:innen nur so ihren Sinn, denn sie wissen, dass sie nicht nur Feigenblatt spielen, sondern wirklich entscheiden können. Zum anderen gehen alle Beteiligten wesentlich verantwortungsvoller vor, wenn klar ist, dass hier wirklich Steuergeld kanalisiert wird.“
Gelungene Beispiele für Projekte dieser Art liefern neben Paris auch Barcelona und Reykjavik.
2. Partizipative Gesetzesarbeit
Die aktive Mitwirkung an der Ausarbeitung von Gesetzen ist sehr anspruchsvoll, sie verlangt auch den teilnehmenden Bürgerinnen viel Wissen ab, sowohl inhaltlich als auch prozessual. Das soll aber nicht davon abhalten, wenigstens einfache Stellungnahmen über Online-Tools möglich zu machen. Dafür muss aber wieder die Software einiges draufhaben, erläutert Strasser:
„Wenn das nicht in Pseudo-Mitwirkung für den Papierkorb abgleiten soll, braucht es Programme der Künstlichen Intelligenz (KI), um viele tausend Vorschläge und Anmerkungen auswerten zu können.“
3. Online Voting
Wenn Abstimmungsprozesse online funktionieren sollen, müssen die Systeme hohe Sicherheitsstandards erfüllen, sowohl was die zweifelsfreie Identifikation der Wähler:innen betrifft, als auch die Fälschungs- und Abhörsicherheit. Die EU hat inzwischen Empfehlungen für Sicherheitsvorschriften ausgearbeitet, die von den Anbietern der e‑Voting-Systeme eingefordert werden sollten. Wenn die Sicherheit gewährleistet ist, kann e‑Voting die Teilnahme an Wahlen deutlich verbessern und in vielen Ländern den Zugang von sonst marginalisierten Gruppen erleichtern.
4. „Fix my street“-Plattformen
Wenn der Kanaldeckel an der Ecke klappert, die Straßenlaterne ausgefallen ist oder der Wind die Glasscheibe des Tramway-Wartehäuschens eingeschlagen hat – wohin soll man sich dann als Anrainer wenden? Online-Adressen, wo man solche Beobachtungen simpel und formlos melden kann, stellen keine große Innovation dar, sie verbessern aber den Dialog zwischen Verwaltung und Bürger:innen und erhöhen die Achtsamkeit gegenüber dem öffentlichen Raum.
5. Transparenz, Information, Meinungsbildung und Diskussion
Der Diskutier-Stammtisch, die Nachbarschaftsversammlung, die Grätzelrunde – sie alle können sich künftig auch in Online-Gruppen organisieren. Online-Tools können eingesetzt werden, um die Prozesse der Politik und der Verwaltung transparenter zu machen, um gezielt über Projekte zu informieren und um Diskussionen bei den Betroffenen anzustoßen.
Eine Frage des Bewusstseins
Warum handelt es sich bei diesen Formen der digitalen Mitwirkung trotz aller Erfolge immer noch um Innovationen, die erst so richtig Fuß fassen müssen? Edward Strasser ortet hier ein mangelndes Verständnis auf Seiten der Politik:
„Viele haben die Idee noch überhaupt nicht verstanden. Gerade politische Parteien stehen einer echten Mitsprache der Bürger:innen skeptisch gegenüber. Dort herrscht die Überzeugung: ‚Wir wissen besser, was die Menschen brauchen, als sie selber.‘ Da fehlt die Offenheit.“
Erfolgreiche Partizipation – ob online oder im direkten Kontakt – erfordert eine Kultur des Vertrauens, so Strasser. Die Teilnehmenden müssen vertrauen, dass die Prozesse ordentlich gemanagt werden, dass ihre Arbeit ernst genommen wird und dass das, was sie tun, irgendeine Wirkung haben wird. Sie müssen bereit sein, das Risiko der Ergebnisoffenheit einzugehen. Und sie müssen vertrauen in die eigenen Fähigkeiten haben, „die Überzeugung, dass etwas Gescheites herauskommen kann.“
Großes Augenmerk muss auf Inklusion und Repräsentativität gelegt werden. Online-Prozesse ermöglichen leichte und niedrigschwellige Zugänge – aber nur für Menschen, die mit Computern umgehen können und selber einen Laptop besitzen. Es ist wichtig, darauf zu achten, dass die weniger IT-affinen Bevölkerungsgruppen nicht ausgegrenzt werden.
Missbrauch verhindern
Schließlich spielt auch die Auswahl der richtigen Technologie eine Rolle:
„Hier klärt sich gerade der Markt. Es sind sehr viele Anbieter unterwegs, daher gibt es auch jede Menge Scharlatane oder auch Systeme, die im Ernstfall mit sehr großen Datenmengen nicht zurechtkommen.“
Unzureichende Technik kann oft die Ursache gewesen sein, warum jemand vermeintlich schlechte Erfahrungen mit digitaler Partizipation gemacht hat. Wie anfällig sind die Demokratie-Algorithmen gegenüber Missbrauch, sei es durch Schlamperei oder durch gezielte Hackerangriffe? „Diese Sorge muss man ernst nehmen“, sagt Strasser:
„Die Sicherheit braucht sicher größtes Augenmerk, die Angst vor Missbrauch darf aber nicht zum Vorwand werden, um die Digitalisierung der Demokratie zu verzögern. Die weitaus größte Zahl der bereits existierenden Projekte ist in dieser Hinsicht völlig unproblematisch.“
In den nächsten Jahren erwartet Edward Strasser jedenfalls einen weiteren Schub in Richtung digitaler Partizipation:
„Dafür sorgt allein schon die Tatsache, dass die EU die Gelder im Rahmen ihres Green Deals an Partizipation gekoppelt hat. Klimaschutz-Initiativen sind nur förderungswürdig, wenn sie partizipative Elemente enthalten. Darüber hinaus sehen wir, dass der Wunsch der Bürger:innen nach Mitwirkung immer weiter steigt. Die Welle hat erst begonnen.“