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„Die Leute erreichen, nicht Botschaften senden“

Autor: Wal­ter Osz­to­vics | 13. April 2021

Carline Mohr ist Kommunikationsexpertin. Sie leitet seit 2019 den Newsroom des SPD-Parteivorstands, ist also wesentlich für die Online-Kommunikation der SPD-Bundespartei verantwortlich. Davor war sie in mehreren leitenden Funktionen im Bereich digitaler Kommunikation tätig. So verantwortete sie das Social Media Team der Bild-Zeitung, war anschließend bei Spiegel Online als Chefin vom Dienst für das Audience Development zuständig. Von 2017 bis 2019 arbeitete sie als Head of Platform Strategy für die Content-Agentur Looping Group. Bei einem Online-Meeting mit dem Arbeitskreis Digital Public Affairs sprach Carline Mohr über die Herausforderungen von digitaler Kommunikation für politische Parteien – vor allem über deren Messbarkeit und die Möglichkeiten der Erfolgskontrolle.

Dis­clai­mer: Car­line Mohr hat in ihrem Vor­trag gegen­dert, in dem sie bei­de Geschlech­ter-For­men ver­wen­det hat (Bür­ge­rin­nen und Bür­ger) oder das Binnen‑I mit­ge­spro­chen hat (Bürger:innen). Wir haben das in unse­rem Blog­bei­trag übernommen. 

„Poli­ti­sche Online-Kom­mu­ni­ka­ti­on war für mich sofort etwas Beson­de­res, weil man erst­mal nie­man­dem etwas ver­kau­fen muss. Man muss Men­schen nicht auf eine Home­page locken, damit sie dort einen Klick hin­ter­las­sen für die Wer­be­kun­dIn­nen. Man muss sie nicht einen Shop lei­ten, damit sie dort Pro­duk­te kaufen“.

Mit die­ser Abgren­zung zur kom­mer­zi­el­len Online-Kom­mu­ni­ka­ti­on defi­niert Car­line Mohr im Talk mit dem Arbeits­kreis Digi­tal Public Affairs die spe­zi­fi­schen Auf­ga­ben, die sich beim Ver­mit­teln von Poli­tik im Netz stel­len: „Die Auf­ga­be von poli­ti­scher Kom­mu­ni­ka­ti­on ist es, Men­schen zu über­zeu­gen, ihr Ver­trau­en zu gewin­nen. Poli­ti­sche Kom­mu­ni­ka­ti­on muss aus Use­rIn­nen Inter­es­sier­te machen und aus Inter­es­sier­ten Wäh­le­rin­nen und Wäh­ler. Ein Klick oder Like kann nicht der ein­zi­ge Maß­stab dafür sein, ob das gelun­gen ist. Auf­merk­sam­keit ist wirk­lich nicht alles“. 

Rei­nes Reich­wei­ten-Den­ken hält Mohr für trü­ge­risch. Vor allem auf Face­book muss man die Reich­wei­te mit Vor­sicht betrach­ten. „Wich­ti­ger ist doch die Fra­ge: Haben wir es aus der eige­nen Bubble geschafft? Haben Men­schen einen Arti­kel wirk­lich ange­se­hen? Haben sie bei etwas mit­ge­macht? Haben wir eine neue Ziel­grup­pe erreicht? Hohe Reich­wei­ten sagen erst­mal wenig dar­über aus, ob das eigent­li­che Ziel der Kom­mu­ni­ka­ti­on erreicht wur­de – ob also die Bot­schaft ange­kom­men ist.“

Impact statt Likes

Wel­che Kri­te­ri­en sind aber tat­säch­lich aus­sa­ge­kräf­tig? Wor­an lässt sich erken­nen, ob die Kom­mu­ni­ka­ti­on auch kogni­tiv ver­ar­bei­tet wurde?

Die Ant­wort auf die­se Fra­ge muss berück­sich­ti­gen, dass sich das Nut­zer­ver­hal­ten von Online-Medi­en sehr dyna­misch wei­ter­ent­wi­ckelt. Noch vor eini­gen Jah­ren galt Sha­ring als eines der wich­tigs­ten Maß­stä­be. Wer einen Bei­trag teilt oder wei­ter­lei­tet, mul­ti­pli­ziert sei­ne Reich­wei­te. Fin­det den Bei­trag wich­tig genug, um ihn mit sei­nen Freun­dIn­nen oder Abon­nen­tIn­nen zu tei­len. Durch das Tei­len bezieht man Stel­lung zu einem Bei­trag, bewer­tet ihn und ver­rät auch etwas über sich selbst. Hohe Share­zah­len bestehen heu­te aber häu­fig zu einem viel höhe­ren Teil als vor noch eini­gen Jah­ren aus auto­ma­ti­schen Shares von Bots oder Fakeprofilen.

In der Poli­tik besteht zudem ein hoher Pro­zent­satz der rea­len Per­so­nen, die Pos­tings tei­len, aus den eige­nen Funk­tio­nä­rIn­nen und Mit­ar­bei­te­rIn­nen. Damit wird eine hohe Reich­wei­te ledig­lich in den eige­nen Rei­hen erzielt.

Rückzug in kleine Räume

Immer mehr Men­schen zie­hen sich aus den Social-Media-Kanä­len in klei­ne­re Räu­me zurück. Man kom­mu­ni­ziert nicht mehr so gern in die gro­ße, undif­fe­ren­zier­te Öffent­lich­keit hin­ein, son­dern bleibt in einer defi­nier­ten Grup­pe, zum Bei­spiel auf WhatsApp.

Eine der größ­ten Her­aus­for­de­run­gen für poli­ti­sche Online-Kom­mu­ni­ka­ti­on besteht daher dar­in, aus der eige­nen Fil­ter­bla­se hin­aus­zu­kom­men und neue Ziel­grup­pen zu erreichen.

Inhalt und Betroffenheit statt Blickfang

Car­line Mohr for­dert eine stär­ke­re Kon­zen­tra­ti­on auf die Inhal­te der Kom­mu­ni­ka­ti­on: „Einer der unsin­nigs­ten Sät­ze im Zusam­men­hang mit Online-Kom­mu­ni­ka­ti­on lau­tet: Man muss die Leu­te in drei Sekun­den fes­seln. Das ist Bull­shit. Die Men­schen sind im Gegen­teil mehr als über­sät­tigt von News­feeds mit blin­ken­den, schrei­en­den Ankün­di­gun­gen. Das Über­ver­kau­fen von Inhal­ten führt nur zu Ärger.“

Was tut dieses Posting für mich?

Die drei-Sekun­den-Regel muss modi­fi­ziert wer­den: Nut­ze­rIn­nen müs­sen so schnell wie mög­lich ver­ste­hen: „Was tut der jewei­li­ge Inhalt für mich“? Wer­de ich infor­miert oder unter­hal­ten, soll ich etwas tun oder erwar­tet mich ein Ser­vice? Bot­schaf­ten oder Slo­gans allein rei­chen nicht. Par­tei­en und Poli­ti­ke­rIn­nen wer­den gewählt, um Pro­ble­me zu lösen, um Ver­än­de­run­gen zu bewir­ken – mög­li­cher­wei­se auch, um unge­woll­te Ver­än­de­run­gen zu verhindern.

Car­line Mohr prä­sen­tiert eine vier­stu­fi­ge Check­lis­te der Anfor­de­run­gen, die an gelun­ge­ne poli­ti­sche Online-Kom­mu­ni­ka­ti­on gestellt wer­den. „Wir müs­sen Leu­te errei­chen, nicht nur Bot­schaf­ten sen­den“, sagt Car­line Mohr. Als fünf­te Auf­ga­be kommt noch eine Dienst­leis­tungs­funk­ti­on hin­zu – Infor­ma­tio­nen und Argu­men­te zum Abrufen.

  • Lis­ten: Poli­ti­ke­rIn­nen und Par­tei­en müs­sen zuhö­ren. Die poten­zi­el­len Wäh­le­rin­nen und Wäh­ler wol­len mit ihren Anlie­gen wahr­ge­nom­men werden.
  • Explain: Unauf­ge­reg­tes Erklä­ren der Zusam­men­hän­ge schafft Ver­trau­en. Die Balan­ce zwi­schen ech­tem Erklä­ren und her­ab­las­sen­den Beleh­ren ist oft schwie­rig, eben­so muss die Gren­ze zwi­schen ver­ste­hen­dem Erklä­ren und Her­um­re­den oder Aus­re­den klar erkenn­bar sein.
  • Feel: Empa­thie ist gefragt.  Man muss Men­schen berüh­ren, auf einer emo­tio­na­len Ebe­ne über­zeu­gen. Das gelingt häu­fig am bes­ten über Per­so­nen und oder per­sön­li­che Geschichten.
  • Do: Im Ide­al­fall mün­det eine Kom­mu­ni­ka­ti­on in eine Akti­vi­tät. Am Ende steht daher immer eine Auf­for­de­rung: „Nimm teil!“, „Stim­me ab!“, „Rede mit ande­ren dar­über!“, „Spen­de!“
  • Ser­vice: Ein Inhalt kann auch einen ganz kon­kre­ten Ser­vice für die Bür­ge­rIn­nen und Bür­ger ent­hal­ten. „Hier bekommst du die 5 wich­tigs­ten Argu­men­te, um jeman­dem zu erklä­ren, dass die AfD kei­ne bür­ger­li­che Par­tei ist.“ – „Auf die­ser Sei­te haben wir die wich­tigs­ten Tele­fon­num­mern gesammelt.“

Als Lis­ten-For­mat star­te­te die SPD eine Mini-Kam­pa­gne, bei der die Use­rIn­nen auf­ge­for­dert wur­den, online Fra­gen zu stel­len. Die ers­te die­ser Art rich­te­te sich an Kul­tur­schaf­fen­de, die wäh­rend des Novem­ber Lock­downs um ihre Exis­tenz fürch­te­ten. Car­line Mohr spiel­te dem SPD-Finanz­mi­nis­ter Olaf Scholz die Audio­nach­rich­ten vor, las den offe­nen Brief von Hel­ge Schnei­der und ließ Scholz dar­auf ant­wor­ten. Beim End­pro­dukt ent­schied sich Mohr für einen gewag­ten Titel, der mit dem typi­schen Framing poli­ti­scher Kom­mu­ni­ka­ti­on bricht, bei dem sich Par­tei­en immer dar­um bemü­hen, posi­ti­ve Bot­schaf­ten zu sen­den. Mohr dage­gen setz­te den Titel durch: „Wir füh­len uns unge­recht behan­delt, Olaf Scholz.“ So woll­te sie deut­lich machen: „Wir hören euch wirk­lich zu und wir beant­wor­ten auch die unan­ge­neh­men Fragen.“

Das For­mat fin­det inzwi­schen regel­mä­ßig statt, unter ande­rem mit Fami­li­en­mi­nis­te­rin Fran­zis­ka Gif­fey oder mit dem Gesund­heits­öko­no­men und SPD-Abge­ord­ne­ten Karl Lauterbach.

Dialog aufnehmen

Anders als klas­si­sche Kom­mu­ni­ka­ti­on ist Online-Kom­mu­ni­ka­ti­on kei­ne Ein­bahn­stra­ße, son­dern ein Dia­log. Die­se Funk­ti­on, die das eigent­li­che Wesen der sozia­len Medi­en dar­stellt, muss ent­spre­chend genutzt wer­den. Denn wäh­rend Likes (und mitt­ler­wei­le auch Shares) im Hin­blick auf die Wirk­sam­keit nur begrenz­ten Wert besit­zen, kann man mit einer geziel­ten Dia­log­stra­te­gie bei­spiel­wei­se bei Face­book ganz direkt neue Ziel­grup­pen errei­chen. Car­line Mohr: „Wir pro­bie­ren gera­de aus, was pas­siert, wenn Olaf Scholz sich bei Face­book in die öffent­li­che Debat­te ein­mischt und unter öffent­li­chen Pos­tings von Medi­en­sei­ten ein­fach in die Kom­men­ta­re ein­steigt. Bis­her haben wir vie­le posi­ti­ve Erfah­run­gen damit gemacht.“

Die Anhänger nicht vergessen

Das „Listen“-Format und das sys­te­ma­ti­sche Kom­men­tie­ren von frem­den Pos­tings sind dar­auf ange­legt, „die Bubble zu durch­bre­chen“ und neue Grup­pen anzu­spre­chen. Dar­über darf aber nicht ver­ges­sen wer­den, dass auch die eige­nen Leu­te, die Funk­tio­nä­rIn­nen, die Stamm­wäh­le­rIn­nen und sons­ti­ge der SPD emo­tio­nal nahe­ste­hen­de Per­so­nen Kom­mu­ni­ka­ti­ons­be­darf haben.

Eine wich­ti­ge Funk­ti­on der klas­si­schen Par­tei­me­di­en frü­he­rer Zei­ten bestand dar­in, die­sen Leu­ten Argu­men­te und Fak­ten bereit­zu­stel­len, mit denen sie die Posi­ti­on ihrer Par­tei ver­tre­ten oder ver­tei­di­gen konn­ten. Auch Online-Medi­en bie­ten vie­le Mög­lich­kei­ten, die eige­nen Leu­te zu Bot­schaf­te­rin­nen und Bot­schaf­tern der eige­nen Inhal­te zu machen. Das kann eine Explai­ner-Kachel oder ein Hin­ter­grund­text auf der Web­sei­te sein, ein Q&A bei Insta­gram, ein Mit­mach­ak­ti­on über alle Platt­for­men hin­weg, eine Bür­ge­rIn­nen­sprech­stun­de bei You­Tube. „Man muss ver­su­chen, den eige­nen Leu­ten Werk­zeug in die Hand zu geben, mit dem sie für die eige­ne Par­tei ein­tre­ten kön­nen. Egal, ob in einer Online-Dis­kus­si­on am Wahl­stand oder an der Theke.“

Soziale und traditionelle Medien

Sozia­le Medi­en kön­nen gro­ßen Tages­zei­tun­gen oder TV-Sta­tio­nen nicht immer auf glei­cher Augen­hö­he gegen­über­tre­ten. Wenn ein Poli­ti­ker oder eine Poli­ti­ke­rin in den Medi­en kri­ti­siert wer­den, wenn ein Bou­le­vard­blatt eine Kam­pa­gne rei­tet – dann kön­nen die eige­nen sozia­len Media-Kanä­le nicht wirk­lich dage­gen­hal­ten. Den­noch sind sie eine Hilfe.

Zum einen wer­den die eige­nen Leu­te erreicht und haben nicht das Gefühl, dass sie allein­ge­las­sen wer­den, wenn die Par­tei unter Beschuss steht. Zum ande­ren wer­den die Mei­nungs­ma­cher abseits ihres eige­nen Medi­ums erreicht. Die­se Funk­ti­on kommt vor allem Twit­ter zu, das von Jour­na­lis­tIn­nen stark genutzt wird.

Digitale Mobilisierung: Engagement, Partizipation und Protest

Autor*innen: Wal­ter Osz­to­vics, Julia­na Korn­hoff, Simon Wahl | 12. April 2021

Yussi Pick führt gemeinsam mit dem Ex-Journalisten Josef Barth die Agentur Pick & Barth, die auf Digitale Kommunikation, Strategieberatung und Campaigning spezialisiert ist. Pick studierte Politische Kommunikation an der American University in Washington, D.C. und arbeitete danach als Berater in zahlreichen Wahlkampagnen mit. Im US-Präsidentschaftswahlkampf 2016 war Pick Mitglied des Online-Teams von Hillary Clinton.

Sei­ne Erfah­rung mit Kam­pa­gnen im Zeit­al­ter des Inter­net tra­gen viel zum bes­se­ren Ver­ständ­nis der Rah­men­be­din­gen von Digi­tal Public Affairs bei. Für Yus­si Pick sind digi­ta­le Medi­en sind nicht ein­fach nur eine Grup­pe von zusätz­li­chen Instru­men­ten des Infor­ma­ti­ons-aus­tauschs, son­dern haben die ver­schie­de­nen For­men der Kom­mu­ni­ka­ti­on zwi­schen der Poli­tik und den Play­ern außer­halb grund­le­gend ver­än­dert. Sei­ne The­sen prä­sen­tier­te er bei einem Vor­trag vor der Arbeits­grup­pe Digi­tal Public Affairs der ÖPAV.

These 1: Kampagnen müssen Menschen mobilisieren – aber wohin?

Mobi­li­sie­ren ist durch die sozia­len Medi­en leicht gewor­den. Man braucht nur ein halb­wegs emo­tio­nal auf­ge­la­de­nes Anlie­gen, das man mit ent­spre­chen auf­rüt­teln­den Argu­men­ten in die diver­sen Tei­löf­fent­lich­kei­ten von Twit­ter, Face­book & Co trägt. Damit kann man in kur­zer Zeit vie­le tau­send zustim­men­de Clicks ern­ten und so den Rücken­wind der öffent­li­chen Mei­nung für sei­ne Sache entfachen.

In poli­ti­schen Kam­pa­gnen spielt Online-Kom­mu­ni­ka­ti­on daher eine immer grö­ße­re Rol­le. Sie kann somit auch für Public Affairs und Inter­es­sen­ver­tre­tung ein­ge­setzt wer­den. Aber die­se Instru­men­te erfor­dern sorg­fäl­ti­ge Planung.

Die wich­tigs­te Fra­ge ist die nach dem Ziel. Das mag nach einer bana­len Fest­stel­lung klin­gen, tat­säch­lich aber ist die Fra­ge „Wohin will ich mei­ne Ziel­grup­pe bewe­gen?“ nicht immer leicht zu beant­wor­ten, gera­de in der Wer­te­kom­mu­ni­ka­ti­on. Vor allem kann es sehr her­aus­for­dernd sein, Teil­zie­le und Zwi­schen­zie­le vom eigent­li­chen gro­ßen End­ziel zu unter­schei­den. Es hat auch enor­me Aus­wir­kun­gen auf die spä­te­re Stra­te­gie, ob man Zwi­schen­zie­le und Kom­pro­mis­se bereits als Teil­erfolg betrach­tet oder nicht.

Des­halb rät Yus­si Pick, schon in der Pha­se der Pla­nung und Stra­te­gie­fin­dung viel Zeit dafür einzuplanen.

These 2: Jede Kampagne braucht eine „Theory of Change“

Men­schen, die sich durch eine Kam­pa­gne und deren Ziel ange­spro­chen füh­len, wol­len stets Ver­än­de­rung. Des­halb muss ihnen die Kam­pa­gne eine Ant­wort auf zwei Fra­gen liefern:

  • „WIE soll unse­re Welt aus­se­hen, nach­dem wir Erfolg hatten?“
  • „War­um sind WIR es, die die Welt ver­än­dern wollen?“

Das Ent­wi­ckeln einer Theo­ry of Chan­ge (meist abge­kürzt ToC geschrie­ben) ermög­licht es, gemein­sam die Zie­le und Plä­ne zu reflek­tie­ren und dadurch bes­ser zu kom­mu­ni­zie­ren. Die ToC ist eine Vor­stu­fe zur eigent­li­chen Stra­te­gie. Sie folgt idea­ler­wei­se dem Sche­ma „if“ à „then“ à „else“: Aus­ge­hend von einem Sze­na­rio des ange­streb­ten bes­se­ren Zustands stellt sich die Fra­ge: „Falls (if) wir die­sen Zustand errei­chen wol­len, was müs­sen wir dann (then) alles ver­än­dern?“ Dar­an schließt sich unmit­tel­bar die Gegen­pro­be an: „Was pas­siert, wenn wir die Ver­än­de­rung nicht errei­chen? (else)“.

Schließ­lich folgt die bereits oben ange­führt die Fra­ge, war­um UNSERE Orga­ni­sa­ti­on die rich­ti­ge ist, um die­se Ver­än­de­rung herbeizuführen.

Somit macht eine ToC die Zusam­men­hän­ge zwi­schen den geplan­ten Akti­vi­tä­ten und den erhoff­ten Ergeb­nis­sen sicht­bar. Sie ist gewis­ser­ma­ßen eine Road­map zur Veränderung.

These 3: Digital ist mehr als Social Media

Die Digi­ta­li­sie­rung muss als Quer­schnitts­ma­te­rie ver­stan­den wer­den, die sich durch alle Berei­che zieht. In einer Kam­pa­gne oder einem PA-Pro­jekt müs­sen Face­book, Twit­ter, Insta­gram & Co als Instru­men­te begrif­fen wer­den, die mit ande­ren Maß­nah­men koor­di­niert und ver­zahnt wer­den – sie sind nicht ein Bereich für sich.

Das lässt sich sehr schön demons­trie­ren, wenn man den Ein­satz von digi­ta­len Medi­en bei US-Prä­si­dent­schafts­wah­len im Rück­blick betrachtet:

  • 2004 (Bush vs. Ker­ry) war es ein Novum, dass Kan­di­da­ten eine eige­ne Web­site hatten.
  • 2008 (Oba­ma vs. McCain) wur­den eige­ne Digi­tal Teams instal­liert, die vor allem Con­tent ins Web stell­ten. Social Media spiel­te noch eine unter­ge­ord­ne­te Rolle.
  • 2012 (Oba­ma vs. Rom­ney) gab es eige­ne Social Media Teams inner­halb des Digi­tal Teams, Face­book und Twit­ter gewan­nen an Bedeutung.
  • 2016 (Trump vs. Clin­ton): Das Digi­tal Team umfass­te neben Social Media auch Exper­ten für direk­te Kom­mu­ni­ka­ti­on über E‑Mail und SMS, Exper­ten für Digi­tal Recrui­ting (von Frei­wil­li­gen und Unter­stüt­zern), Paid Online Mar­ke­ting, etc.
  • 2020 (Trump vs. Biden): Es gab kein eige­nes Digi­tal Team mehr, die Funk­tio­nen waren voll­stän­dig in die Wahl­kampf-Kom­mu­ni­ka­ti­on integriert.

Dabei kön­nen je nach Stra­te­gie alle ver­füg­ba­ren Tech­no­lo­gien ein­ge­setzt wer­den. Klas­si­sches E‑Mail kann einer der stärks­ten Kanä­le sein, wenn er rich­tig genutzt wird. Eine rich­ti­ge Nut­zung muss berück­sich­ti­gen, dass E‑Mail als per­sön­li­che Zwei­weg-Kom­mu­ni­ka­ti­on kon­zi­piert wur­de. News­let­ter und digi­ta­le Post­wurf­sen­dun­gen sind daher wenig wirk­sam, sehr wohl hin­ge­gen ech­te per­sön­li­che Anspra­che und Call to action.

These 4: Think of the big tail

Wer an digi­ta­le Medi­en denkt, asso­zi­iert damit meist Schnel­lig­keit, Ad-hoc-Ver­füg­bar­keit und kurz­at­mi­ges Haf­ten am Augen­blick. Dabei wird über­se­hen, dass das Inter­net auch ein lan­ges und sehr umfang­rei­ches Gedächt­nis hat. Inhal­te blei­ben dort erhal­ten und sind über Such­ma­schi­nen auf­find­bar. Des­halb soll­ten die digi­ta­len Maß­nah­men im Rah­men einer Kam­pa­gne oder eines PA-Pro­jekts nicht nur im Hin­blick auf ihre Reich­wei­te, son­dern auch im Hin­blick auf die Lang­zeit­wir­kung kon­zi­piert werden.

Lang­zeit­wir­kung lässt sich vor allem bei Men­schen erzie­len, die sich bereits näher mit einem The­ma befasst haben oder ein beson­de­res Inter­es­se dar­an mit­brin­gen. Sol­che Men­schen las­sen sich im Inter­net leicht fin­den. Zu fast jedem The­ma gibt es im Web bereits eine Nische – eine ver­mut­lich eher klei­ne Grup­pe von beson­ders akti­ven Per­so­nen, die bereits ent­spre­chen­de Inhal­te pro­du­ziert haben und daher das Anlie­gen auch aktiv weitertragen.

Denn weni­ger Reich­wei­te bedeu­tet fast immer mehr Auf­merk­sam­keit. Wenn die Ziel­grup­pe klei­ner wird, wird sie auch treff­ge­nau­er. Mit digi­ta­len Medi­en kön­nen Grup­pen ange­spro­chen wer­den, die zwar ver­gleichs­wei­se klei­ner sind, sich dafür aber wirk­lich interessieren.

These 5: SMS ist ein einfaches, rasches interaktives Medium

In US-Wahl­kämp­fen spie­len SMS seit Län­ge­rem eine wich­ti­ge Rol­le. Beson­ders schön war das im Vor­wahl­kampf der US-Demo­kra­ten 2019/2020 zu beob­ach­ten: Aus­nahms­los alle Kan­di­da­ten hat­ten bei ihren Auf­trit­ten auf dem Red­ner­pult oder im Hin­ter­grund ein gro­ßes Schild mon­tiert, das die Auf­for­de­rung „Text me“ und eine Mobil­te­le­fon­num­mer enthielt.

Die Erfah­run­gen aus den USA las­sen sich aber nur bedingt auf Euro­pa umle­gen. Spe­zi­ell in Öster­reich sind die recht­li­chen Beschrän­kun­gen für Wer­be-SMS sehr streng. Wenn man die­se Beschrän­kun­gen beach­tet und die lega­len Vor­aus­set­zun­gen schafft (also die Zustim­mung der User ein­holt), dann kann SMS-Kom­mu­ni­ka­ti­on sehr wir­kungs­voll sein, denn sie läuft über das Mobil­te­le­fon, also das am stärks­ten ver­brei­te­te Instru­ment der digi­ta­len Kom­mu­ni­ka­ti­on. Rund die Hälf­te aller User von Web-Infor­ma­tio­nen kon­su­mie­ren die­se über Smart­phones. Die­se Nut­zung ist auch weit­ge­hend unab­hän­gig von Ort und Zeit. Zum Bei­spiel wird beim War­ten auf die U‑Bahn oder beim Fah­ren mit öffent­li­chen Ver­kehrs­mit­teln sehr inten­siv Smart­phone-Info genutzt.

Das bedeu­tet, dass alle digi­ta­len Infor­ma­tio­nen han­dy­taug­lich gestal­tet wer­den müs­sen, auch und gera­de Pod­casts und Vide­os. Direk­te SMS-Kom­mu­ni­ka­ti­on erfor­dert eine leis­tungs­fä­hi­ge Logis­tik. Ein­ge­hen­de SMS müs­sen rasch beant­wor­tet wer­den, dazu ist ein aus­rei­chend gro­ßes Team erfor­der­lich, eben­so natür­lich eine aus­rei­chend Band­brei­te in den Mobilnetzen.

Trotz die­ser Hür­den wur­de SMS-Kom­mu­ni­ka­ti­on zum Bei­spiel auch im Wien-Wahl­kampf 2020 genutzt. Vor allem die Grü­nen und die NEOS haben recht­zei­tig einen gro­ßen Daten­satz an Emp­fän­gern ange­sam­melt, die dem regel­mä­ßi­gen Emp­fang von Bot­schaf­ten zuge­stimmt haben und dar­auf­hin zum Bei­spiel die „Bot­schaft des Tages“ erhiel­ten, oder Ad-hoc-Stel­lung­nah­men zu aktu­el­len Themen.

These 6: Auch digitales Astroturfing ist kontraproduktiv

Vor­ge­täusch­te Bür­ger­be­we­gun­gen, hin­ter denen in Wahr­heit eine Indus­trie­grup­pe oder eine Bran­che steht, waren eine ver­brei­te­te Unart der Nuller­jah­re. Meh­re­re Skan­da­le rund um angeb­li­che NGOs in der Phar­ma- und Lebens­mit­tel­bran­che mach­ten die Metho­de öffent­lich bekannt und brach­ten sie zugleich in Ver­ruf. Obwohl Astro­tur­fing mitt­ler­wei­le zu den geäch­te­ten Prak­ti­ken gehört, tau­chen ein­schlä­gi­ge Ver­su­che immer wie­der auf – wohl gera­de des­halb, weil es auf Inter­net­platt­for­men und auf den Social-Media-Kanä­len so ein­fach ist, Basis-Initia­ti­ven zu starten.

Oft trifft die Qua­li­fi­ka­ti­on „Astro­turf“ nur zur Hälf­te zu, es han­delt sich sehr wohl um ech­te Initia­ti­ven mit ech­ten Bür­gern, aller­dings steht ein Spon­sor mit einem poli­ti­schen oder wirt­schaft­li­chen Inter­es­se im Hin­ter­grund. Jeden­falls zeigt die Erfah­rung, dass unech­te Initia­ti­ven frü­her oder spä­ter immer schei­tern und dann nach hin­ten los­ge­hen. Dann schä­digt der Ver­such, popu­lä­re Unter­stüt­zung vor­ge­täuscht zu haben, dem Anlie­gen ins­ge­samt, das a prio­ri mög­li­cher­wei­se durch­aus aner­ken­nens­wert gewe­sen sein mag.

Gedankensplitter

Im Anschluss an den Vor­trag hat Yus­si Pick Fra­gen aus dem Publi­kum beant­wor­tet. Aus­zü­ge aus den Antworten:

Die Coro­na-Kri­se mit ihrem unvor­her­ge­se­he­nen Digi­ta­li­sie­rungs-Schub hat auch die digi­ta­le Ziel­grup­pe erwei­tert. Nach wie vor gilt aber für alle, die Kam­pa­gnen pla­nen, Anlie­gen trans­por­tie­ren oder ein­fach nur Netz­wer­ke knüp­fen wol­len: Men­schen wer­den im digi­ta­len Raum orga­ni­siert – sie tref­fen sich aber in der rea­len Welt. Es ist wich­tig jetzt eine Com­mu­ni­ty auf­zu­bau­en, nicht erst wenn man ein kon­kre­tes The­ma hat.

  • Digi­ta­le Public Affairs ist eine bedeu­ten­de Schie­ne der poli­ti­schen Kom­mu­ni­ka­ti­on gewor­den und ergänzt die gewohn­te „Leder­so­fa-Tür­klin­ken-PA“. Die gro­ße Chan­ce, die digi­ta­le Metho­den bie­ten, liegt im Auf­bau von Com­mu­ni­ties. Men­schen, die mein Anlie­gen tei­len und mit­tra­gen, las­sen sich im Inter­net leich­ter fin­den. Aller­dings ist für PA Arbeit die rea­le Welt nach wie vor sehr wichtig.
  • Die Gefahr des Miss­brauchs von digi­ta­len Kanä­len für Mani­pu­la­ti­on und Des­in­for­ma­ti­on ist unver­än­dert hoch, auch wenn das Bewusst­sein gestärkt und die Schutz­maß­nah­men ver­bes­sert wur­den – vor allem in Reak­ti­on auf die Skan­da­le aus dem Trump-Wahl­kampf 2016 und spä­ter auf die mani­schen Fake-News-Tweets Trumps wäh­rend sei­ner Prä­si­dent­schafts­zeit. Trotz­dem ist das Inter­net der Ort der Ver­schwö­rungs­theo­rien. Nicht nur Russ­land setzt Trol­le ein. So hat z.B. der bra­si­lia­ni­sche Prä­si­dent Jair Bol­so­n­a­ro im Wahl­kampf mas­siv mit Ver­brei­tung von Gerüch­ten über Whats­App-Grup­pen gearbeitet.
  • Eine Fol­ge der Skan­da­le war, dass sich jün­ge­re Men­schen aus den offe­nen Social Media Kanä­len (Face­book, Twit­ter, Insta­gram) in nicht­öf­fent­li­che digi­ta­le Räu­me zurück­zie­hen (Whats­App, Snap­chat). Für poli­ti­sche Kom­mu­ni­ka­to­ren ent­steht dar­aus eine neue Her­aus­for­de­rung, näm­lich in sol­che Grup­pen ein­ge­las­sen zu werden.
  • Digi­ta­le Par­ti­zi­pa­ti­on ist ein Trend, aber es han­delt sich oft um die „Illu­si­on von Par­ti­zi­pa­ti­on“. Kam­pa­gnen ver­su­chen immer, Men­schen an einem Pro­zess teil­ha­ben zu las­sen, aber man muss ein­ge­ste­hen, dass die Teil­ha­be oft nur dar­in besteht, ein Anlie­gen mit sei­ner Stim­me zu unter­stüt­zen. Frei­wil­li­ge Unter­stüt­zer müs­sen ein­ge­bun­den wer­den und inves­tiert sein.
  • Ein gro­ßes Pro­blem bei Online-Par­ti­zi­pa­ti­on besteht dar­in, dass die Pro­zes­se schnell eli­tär wer­den, weil sowohl der Zugriff auf den Pro­zess als auch die inhalt­li­chen Fra­gen hohes Vor­wis­sen erfordern.

Digitale PA im Zeitalter der digitalen Politik

Autor: Wal­ter Osz­to­vics | 23. März 2021

Im Jahr 2014 beschloss die Stadt Paris, dass die BewohnerInnen über zunächst 5 Prozent des Haushaltsbudgets direkt bestimmen dürfen – mittlerweile sind es 8 Prozent. Über die gesamte Amtsperiode der damals frisch gewählten Bürgermeisterin Anne Hidalgo (Bild rechts) war das immerhin eine Summe von fast 500 Millionen Euro.

Anne Hidal­go wur­de damit zu einer Vor­rei­te­rin in einem Trend, der sich mitt­ler­wei­le in ganz Euro­pa ver­brei­tet hat: Direk­te Mit­wir­kung von Bür­ge­rIn­nen an poli­ti­schen Ent­schei­dun­gen mit Hil­fe von digi­ta­len Instrumenten. 

Digi­ta­le Kanä­le sind eine ent­schei­den­de Vor­aus­set­zung für das Gelin­gen sol­cher Pro­jek­te, denn nur dann ist es mög­lich, bei über­schau­ba­rem Auf­wand eine gro­ße Zahl von Men­schen ein­zu­be­zie­hen. Die bei­den größ­ten Her­aus­for­de­run­gen sind dabei in jedem Fall: Wie kann ver­hin­dert wer­den, dass die brei­te Bür­ge­rIn­nen­be­tei­li­gung in Wahr­heit eine eli­tä­re Ver­an­stal­tung wird, weil nur jemand, der einen Com­pu­ter besitzt und über ent­spre­chend poli­ti­sches Wis­sen ver­fügt, auch tat­säch­lich sinn­voll teil­neh­men kann? Und zwei­tens: Wie kann sicher­ge­stellt wer­den, dass die ein­ge­lang­ten Stel­lung­nah­men, Ideen und Kri­tik­punk­te auch tat­säch­lich berück­sich­tigt werden?

Der lang­fris­ti­ge Trend zu mehr direk­ter Par­ti­zi­pa­ti­on, der schon seit Jah­ren in der poli­ti­schen Theo­rie sowie bei allen Über­le­gun­gen zur Wei­ter­ent­wick­lung der Demo­kra­tie ein zen­tra­les The­ma dar­stellt, fließt hier mit der fort­schrei­ten­den Digi­ta­li­sie­rung der poli­ti­schen Pro­zes­se zusam­men. Die Poli­tik wird digi­tal. In der Fol­ge wird sich die Art, wie in euro­päi­schen Demo­kra­tien poli­ti­sche Ent­schei­dun­gen erar­bei­tet, gefällt und legi­ti­miert wer­den, in den nächs­ten zehn Jah­ren fun­da­men­tal ändern. Das bedeu­tet, dass sich auch die sys­te­ma­ti­sche Inter­es­sen­ver­tre­tung, also Public Affairs und Lob­by­ing, ent­spre­chend ent­wi­ckeln müs­sen. Digi­ta­le Public Affairs ist die Ant­wort auf eine mehr und mehr digi­ta­le Politik.

Drei Säulen der digitalen Politik

Drei eng mit­ein­an­der ver­zahn­te Berei­che sind von den Ver­än­de­run­gen durch die Digi­ta­li­sie­rung am stärks­ten betrof­fen. In allen drei Fäl­len erge­ben sich dar­aus weit­rei­chen­de und lang­fris­ti­ge Aus­wir­kun­gen auf die Public Affairs-Arbeit:

  1. Gesetz­ge­bung und Ver­wal­tung sind im Inter­net doku­men­tiert und ermög­li­chen Infor­ma­ti­on in einem Aus­maß und einer Leich­tig­keit wie nie zuvor in der Geschich­te der Demo­kra­tie. Geset­zes­an­trä­ge, par­la­men­ta­ri­sche Anfra­gen, die Tages­ord­nung von Aus­schüs­sen, Ent­wür­fe von Minis­te­ri­en – all die­se Doku­men­te sind mehr und mehr online zugäng­lich. Ple­nar­sit­zun­gen des Par­la­ments kön­nen via Live­stream ver­folgt und zum Teil auch nach­träg­lich gese­hen wer­den. Das bedeu­tet einen Quan­ten­sprung an Trans­pa­renz und Infor­ma­ti­on gegen­über den Ver­hält­nis­sen, die noch zu Beginn des Jahr­hun­derts üblich waren. Dabei hinkt Öster­reich hier der euro­päi­schen Ent­wick­lung sogar noch stark hin­ter­her. In Öster­reich sind nur Ple­nar­sit­zun­gen des Par­la­ments öffent­lich, nicht aber die Aus­schüs­se. Ori­gi­nal­do­ku­men­te gibt es nur von Anträ­gen und Vor­ha­ben im Par­la­ment, nicht aber von den Minis­te­ri­en. Öster­reich kennt auch kei­ne minis­te­ri­el­len Vor­ha­bens­be­rich­te, wie sie etwa in Deutsch­land üblich sind. Selbst die Tages­ord­nungs­punk­te im Minis­ter­rat wer­den erst zu einem sehr spä­ten Zeit­punkt ver­füg­bar gemacht. Pro­fes­sio­nel­le Inter­es­sen­ver­tre­tung ist also wei­ter­hin auf infor­mel­le Infor­ma­ti­ons­quel­len ange­wie­sen. Doch geht die Ent­wick­lung unauf­halt­sam in Rich­tung mehr Trans­pa­renz, und das Mit­tel dazu sind digi­ta­le Kanä­le. Die inten­si­ve Nut­zung digi­ta­ler Infor­ma­ti­ons­ka­nä­le zum Moni­to­ring rele­van­ter poli­ti­scher und admi­nis­tra­ti­ver Vor­gän­ge gewinnt an Bedeu­tung. Zugleich bedeu­tet mehr Trans­pa­renz auch, dass die Tätig­keit der Inter­es­sen­ver­tre­tung (das Lob­by­ing) selbst stär­ker unter öffent­li­cher Beob­ach­tung steht und das Beob­ach­ten von frem­den Lob­by­ing­ak­ti­vi­tä­ten durch die Digi­ta­li­sie­rung erleich­tert wird.
  2. Die Digi­ta­li­sie­rung der poli­ti­schen Kom­mu­ni­ka­ti­on lässt sich eben­falls seit Jah­ren beob­ach­ten: Par­tei­en und Minis­te­ri­en nut­zen mehr und mehr digi­ta­le Medi­en für ihre geziel­te, gesteu­er­te Kom­mu­ni­ka­ti­on. Für die Public Affairs bedeu­tend ist vor allem die Tat­sa­che, dass die sozia­len Medi­en Zwei­weg-Kom­mu­ni­ka­ti­on ermög­li­chen. Zwar ent­steht auf Twit­ter, Face­book, Insta­gram und ähn­li­chen Kanä­len kein ech­ter Dia­log, aber wer sol­che Medi­en nutzt, muss berück­sich­ti­gen, dass sei­ne Bot­schaf­ten stets Reak­tio­nen in Form von posi­ti­ven oder nega­ti­ven Kom­men­ta­ren aus­lö­sen. Die Fol­gen der Digi­ta­li­sie­rung der poli­ti­schen Kom­mu­ni­ka­ti­on für Public Affairs wer­den wir in Fol­ge­bei­trä­gen noch näher beleuchten.
  3. Digi­ta­le Par­ti­zi­pa­ti­on ist jener Trend, der am engs­ten mit der Public Affairs zusam­men­hängt. Die Ent­wick­lung von poli­ti­schen Kon­zep­ten und die Dis­kus­si­on von poli­ti­schen Zie­len fin­det direkt im Inter­net statt. Einer der Wesens­ker­ne von Public Affairs, näm­lich die Mit­wir­kung an poli­ti­schen Ent­schei­dun­gen, wird so erleich­tert und demo­kra­ti­siert, zugleich aber durch das Ein­be­zie­hen von wesent­lich mehr Mit­wir­ken­den grund­le­gend verändert.
Paris
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Fallbeispiel Paris

Die fran­zö­si­sche Haupt­stadt hat 2014 ein bud­get par­ti­ci­pa­tif ein­ge­führt, das mitt­ler­wei­le rund 8 Pro­zent des Gesamt­haus­halts der Stadt umfasst. Die­ser Teil der städ­ti­schen Aus­ga­ben unter­liegt zur Gän­ze dem direk­ten Wil­len der Bür­ge­rIn­nen. Dafür wur­de eine Web­site ein­ge­rich­tet, auf der jeder und jede Pro­jekt­vor­schlä­ge ein­rei­chen kann. Die Frist für die Ein­rei­chung neu­er Pro­jek­te läuft von Jän­ner bis März. Die Beam­ten der Stadt­ver­wal­tung prü­fen zunächst, ob das Pro­jekt rea­li­sier­bar ist. 

Jeder Vor­schlag muss vier Kri­te­ri­en erfül­len, um in die nähe­re Aus­wahl zu kommen:

  1. Der Vor­schlag muss von einem Pari­ser Bür­ger oder einer Bür­ge­rin stam­men – nur Men­schen mit dau­er­haf­tem Wohn­sitz in der Stadt sind teilnahmeberechtigt.
  2. Das Pro­jekt muss im all­ge­mei­nen Inter­es­se lie­gen, es darf also nicht nur Par­ti­ku­lar­in­ter­es­sen ein­zel­ner bedie­nen, son­dern soll mög­lichst allen Nut­zen bringen.
  3. Das Pro­jekt muss in den Kom­pe­tenz­be­reich der Stadt fallen.
  4. Die Kos­ten für das Pro­jekt müs­sen über­wie­gend Inves­ti­ti­ons­kos­ten sein, nicht über­wie­gend lau­fen­de Kosten.

Alle Pro­jek­te, die auf die­se Wei­se in die Aus­wahl kom­men, wer­den im Inter­net prä­sen­tiert. Wer sich dort regis­triert und sei­nen Haupt­wohn­sitz in Paris hat, darf Vor­schlä­ge und Kom­men­ta­re zum Pro­jekt abge­ben und zuletzt dar­über abstim­men. Bei die­ser Abstim­mung, die stets im Herbst statt­fin­det, geht es nicht ein­fach dar­um, „ja“ oder „nein“ zu einem Vor­schlag zu sagen. Viel­mehr muss das Bud­get ent­spre­chend zuge­wie­sen wer­den. Die Bür­ge­rIn­nen unter­schrei­ben nicht ein­fach einen Wunsch­zet­tel, son­dern set­zen Prio­ri­tä­ten auf Basis der vor­han­de­nen finan­zi­el­len Mittel.

Beim Start 2014 hat­ten 15.000 Pari­se­rIn­nen über das bud­get par­ti­ci­pa­tif mit­be­stimmt. Im Jahr 2019 waren es bereits 130.000. Der Groß­teil der sieg­rei­chen Pro­jek­te betraf die Hebung der Lebens­qua­li­tät durch mehr Grün und weni­ger Ver­kehr. Bei­spiels­wei­se wur­de ein still­ge­leg­ter Bahn­tras­sen­ring (die „Peti­te Ceinture“) begrünt und zu einem Wan­der­weg durch die Stadt umge­stal­tet. Hier zeigt sich auch sehr unmit­tel­bar, wel­che Aus­wir­kun­gen die­se Form der Par­ti­zi­pa­ti­on auf die pro­fes­sio­nel­le Inter­es­sen­ver­tre­tung haben kann. Hidal­gos Stadt­re­gie­rung schlug vor, dass die Stra­ßen ent­lang der Sei­ne auto­frei gemacht und zu Fla­nier­zo­nen umge­stal­tet wer­den. Die Idee stieß auf hef­ti­gen Wider­stand bei den Geschäfts­leu­ten und Gewer­be­trei­ben­den, die Wirt­schafts­kam­mer star­te­te inten­si­ve und pro­fes­sio­nell geplan­te Lob­by­ing-Akti­vi­tä­ten und hat­te auch den grö­ße­ren Teil der Medi­en auf ihrer Seite.

Trotz­dem konn­te Anne Hidal­go ihr Pro­jekt gegen alle Wider­stän­de durch­set­zen. Das Lob­by­ing der Wirt­schafts­kam­mer schei­ter­te, weil es die eigent­li­chen Ent­schei­dungs­trä­ger nicht aus­rei­chend berück­sich­tig­te: die Bür­ge­rIn­nen. Das Bei­spiel Paris hat inzwi­schen Schu­le gemacht. Mitt­ler­wei­le hat ein Vier­tel aller fran­zö­si­schen Kom­mu­nen ein bud­get par­ti­ci­pa­tif. Auch in ande­ren Län­dern wur­de die Idee umge­setzt, etwa in Madrid, Lis­sa­bon und meh­re­ren deut­schen mit­tel­gro­ßen Städten.

Fallbeispiel Barcelona

Bar­ce­lo­na hat 2016 ein umfang­rei­ches Expe­ri­ment für par­ti­zi­pa­ti­ve Demo­kra­tie gestar­tet, und zwar als Pro­jekt inner­halb einer lang­fris­ti­gen Smart-City-Stra­te­gie. Für die Bür­ge­rIn­nen­be­tei­li­gung kommt dabei ein Mix aus Online- und Off­line-Instru­men­ten zum Ein­satz. Eine Freie-Soft­ware-Platt­form namens „Deci­dim“ wur­de ein­ge­rich­tet, wo Bür­ge­rIn­nen neue Ideen und Regu­lie­run­gen vor­schla­gen kön­nen. Was dort hoch­ge­la­den wird, fließt auch tat­säch­lich in die poli­ti­sche Pla­nung ein: Rund 70 Pro­zent der Vor­ha­ben auf der Agen­da der Stadt­po­li­tik stam­men aus Vor­schlä­gen der BürgerInnen.

Bür­ger­meis­te­rin Ada Colau (Bild) hat dazu eigens eine Beauf­trag­te für Tech­no­lo­gie- und Inno­va­ti­ons­po­li­tik instal­liert, Fran­ce­sa Bria. Sie wur­de mit einem aus­rei­chend gro­ßen Team aus­ge­stat­tet, um die wich­ti­ge Kom­mu­ni­ka­ti­on auf der Par­ti­zi­pa­ti­ons-Platt­form zu bewäl­ti­gen: Bür­ge­rIn­nen­be­tei­li­gung funk­tio­niert nur, wenn die Teil­neh­men­den auch das Gefühl haben, dass ihr Enga­ge­ment etwas bewirkt oder zumin­dest ernst genom­men wird, sie also nicht ein­fach Ideen hoch­la­den, die dann im Nir­gend­wo ver­san­den. Zu Bri­as Auf­ga­ben gehört es, die Bür­ge­rIn­nen­be­tei­li­gung der Stadt mög­lichst basis­de­mo­kra­tisch zu gestal­ten, um eben zu ver­mei­den, dass die Digi­ta­li­sie­rung der Stadt zur Exklu­si­on von tech­no­lo­gisch weni­ger affi­nen Bür­ge­rIn­nen führt oder gar zum Aus­schluss von Men­schen, die sich die jeweils neu­es­ten mobi­len und sons­ti­gen Gerä­te nicht leis­ten können.

Ähn­lich wie bei Anne Hidal­go in Paris nutzt auch Ada Colau die­se Par­ti­zi­pa­ti­on zur Absi­che­rung von poli­ti­schen Vor­ha­ben, die ohne ein star­kes Bür­ge­rIn­nen­vo­tum am tages­po­li­tisch moti­vier­ten Wider­stand ande­rer poli­ti­scher Kräf­te schei­tern wür­den. Colau schaff­te die Wie­der­wahl im Mai 2019 nur knapp und hat im Stadt­par­la­ment rela­tiv star­ke Frak­tio­nen von lin­ken und rech­ten kata­la­ni­schen Sepa­ra­tis­ten gegen sich. Digi­ta­le Par­ti­zi­pa­ti­on – das zeigt das Bei­spiel Bar­ce­lo­na eben­so wie das Bei­spiel Paris – kann rea­le Macht­ver­hält­nis­se ver­än­dern, was dann wie­der­um für die Stra­te­gie von Public Affairs-Pro­jek­ten ent­spre­chend berück­sich­tigt wer­den muss.

Seit 2020 wird die Betei­li­gungs­soft­ware Deci­dim auch für die Erstel­lung eines par­ti­zi­pa­to­ri­schen Bür­ger­bud­gets ein­ge­setzt. Wie in Paris stim­men die Bür­ger also nicht nur dar­über ab, ob ihnen Pro­jek­te gefal­len, son­dern auch dar­über, wofür eine vor­ge­ge­be­ne Sum­me Geld aus­ge­ge­ben wer­den soll und wofür nicht. Bei digi­ta­len Platt­for­men wie Deci­dim stellt sich jeweils die Fra­ge, wie die Pri­vat­sphä­re der Nut­ze­rin­nen und Nut­zer gewähr­leis­tet wer­den kann. Zum einen ist es erfor­der­lich, dass sich Teil­neh­men­de an Betei­li­gungs­pro­zes­sen ein­deu­tig iden­ti­fi­zie­ren – eine anony­me Teil­nah­me wäre unde­mo­kra­tisch und wür­de zu Miss­brauch füh­ren. Zum ande­ren muss gewähr­leis­tet sein, dass die per­so­nen­be­zo­gen Daten nicht ver­wen­det wer­den, vor allem muss sich jeder und jede dar­auf ver­las­sen kön­nen, dass geheim bleibt, wel­che Ideen jemand gelie­fert oder wel­che Pro­jek­te er oder sie unter­stützt hat. Die Stadt Bar­ce­lo­na hat dazu ein Pilot­pro­jekt namens DECODE (Decen­tra­li­sed Citi­zens Owned Data Eco­sys­tem) gestar­tet, das von der EU finan­ziert wird. DECODE garan­tiert Geheim­hal­tung und stellt sicher, dass die jeweils frei­ge­ge­be­nen Daten (also etwa ein­ge­brach­te Vor­schlä­ge oder ein Votum für eine bestimm­te Ver­wen­dung von Bud­get­mit­teln) nicht einer bestimm­ten Per­son zuge­ord­net wer­den können.

Europa Flagge
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Bevorstehende Entwicklungen in der EU

Ende Jän­ner 2020 hat die Euro­päi­sche Kom­mis­si­on die Ein­rich­tung einer „Kon­fe­renz zur Zukunft Euro­pas“ beschlos­sen. Der für Mai 2020 geplan­te Start muss­te wegen der Coro­na-Pan­de­mie auf März 2021 ver­scho­ben wer­den. Im Mit­tel­punkt die­ser Kon­fe­renz ste­hen neue Instru­men­te der Par­ti­zi­pa­ti­on. Direk­te Betei­li­gung von Bür­ge­rIn­nen soll eine Qua­dra­tur des Krei­ses ermög­li­chen, näm­lich dafür sor­gen, dass die EU sowohl demo­kra­ti­scher wird als auch schnel­ler zu Ent­schei­dun­gen kommt.

Die Kon­fe­renz selbst wird bereits nach dem Modell der Bür­ge­rIn­nen­rä­te abge­hal­ten, soll also den Input von Exper­tIn­nen eben­so behan­deln wie die Ideen von zufäl­lig aus­ge­wähl­ten Men­schen aus allen Mitgliedsstaaten.

Der­zeit ist noch nicht abseh­bar, wel­che kon­kre­ten Aus­wir­kun­gen die­se Kon­fe­renz auf die Public Affairs-Arbeit in Brüs­sel haben wird. All­ge­mein gilt aber auch hier: Es zeich­net sich eine Ent­wick­lung ab, die dazu füh­ren kann, dass Ent­schei­dun­gen nicht mehr nur im Rat, in der Kom­mis­si­on und im Par­la­ment fal­len, son­dern direkt an die Bür­ge­rIn­nen dele­giert wer­den. Lang­fris­ti­ge Public Affairs-Stra­te­gien müs­sen die­se Ent­wick­lung beob­ach­ten und berücksichtigen.